Die aktuelle Debatte um den Duden und das generische Maskulinum zeigt, dass das Thema um geschlechtersensible Sprache öffentlichkeitswirksam diskutiert wird.[1]Eugen Ruge, Gendergerechte Sprache. Eine Frage der Endung, in: Die Zeit, 24.01.2021, <https://www.zeit.de/2021/04/gendergerechte-sprache-veraenderung-geschlechtergerechtigkeit-duden> [Stand … Continue reading Auch die Diskurse um Frauen in Führungspositionen oder der Ende 2020 von der AfD in einem Antrag an die Bundesregierung geforderte Förderungsstopp für Genderforschung[2]Deutscher Bundestag, Debatte über AfD-Forderung für ein Ende der Gender-Forschung, 16.12.2020, in: bundestag.de, … Continue reading zeigen deutlich auf, dass Genderthemen im Alltags- und Politikdiskurs unserer Gegenwart einen hohen Stellenwert haben.
Wieso aber sollte man sich aus historischer Perspektive mit Geschlechterdiskursen beschäftigen?
Der Blick in die Vergangenheit erlaubt es uns, Geschlecht als soziales Konstrukt und als Kategorie zu verstehen, die unsere Gesellschaft und jedes ihrer Individuen strukturiert. Erst der historische Blick auf Geschlechterdiskurse zeigt Brüche und Kontinuitäten in der Konstruktion dieser sozialen Kategorie auf und erlaubt uns einen differenzierten Blick auf gegenwärtige Diskurse.
Als eine aus den Digital Humanities entwickelte Disziplin greift die Digital History die Kenntnisse um tool- und algorithmenbasierte Datenanalysen und den reflektierten Umgang mit ihnen auf und bezieht sie wiederum auf Gegenstandsbereiche, die der Geschichtswissenschaft eigen sind. In dem hier vorzustellenden Seminar verbinden wir die Methode des Text Minings mit einem geschlechtergeschichtlichen Ansatz.
Das Seminar
Das Seminar “Gesellschaft, Daten und Geschlecht – Historische Geschlechterforschung mit Methoden der Digital History” vermittelte uns einen selbstbestimmten Umgang mit Daten für die historische Forschung. Zudem wurden die Voraussetzungen und Ziele mit dem Umgang dieser Daten festgelegt und kritisch reflektiert. Um diese Kompetenzen zu vertiefen, wurden methodische Zugänge zur Digital History kritisch-reflexiv erarbeitet.
Als methodische Grundlage wurde in den ersten Sitzungen des Seminars ein Basiswissen aufgebaut, welches den Stellenwert und Einfluss von Medien in der heutigen Gesellschaft thematisierte. Anschließend haben wir die Digital History definiert und über ihre Auswirkung auf das historische Arbeiten diskutiert. Um diese Auswirkungen auf das historische Arbeiten zu verdeutlichen, haben wir uns in der folgenden Sitzung mit der geschichtswissenschaftlichen Datenkritik und ihrem Einfluss auf die Hermeneutik beschäftigt. Bevor die Gruppenarbeitsphase des Seminars begonnen hat, haben wir uns über zwei Sitzungen mit der Konstruktion von Geschlecht als Analysekategorie der Geschichtswissenschaft auseinandergesetzt.
In der restlichen Zeit des Seminars haben sich Gruppen gebildet, welche sich mit verschiedenen Themen der historischen Geschlechterforschung im Hinblick auf die Berliner Klinische Wochenschrift befasst haben. In dieser Gruppenarbeitsphase wurde mit Voyant gearbeitet, um in Rückgriff auf Datenvisualisierungen gruppenspezifische Fragestellungen zu beantworten.
Am Ende des Seminars haben wir die Ergebnisse aus der Gruppenarbeit präsentiert und auf dieser Website zusammengefügt.
Das Corpus
Das Corpus setzt sich aus den gesammelten Ausgaben der Berliner Klinischen Wochenschrift (BKW) zusammen, die im Zeitraum von 1864 bis 1921 veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich um eine medizinische Fachzeitschrift, die ab 1864 zunächst von Louis Posner herausgegeben wurde. Als Vorgänger der Zeitschrift gelten die Medicinische Zeitschrift und die Preussische Medicinal-Zeitung. Die BKW wurde 1922 mit den Therapeutischen Monatsheften (1887 – 1921) zur Klinischen Wochenschrift zusammengefasst. Sie besteht bis heute unter dem Namen Journal of Molecular Medicine.
Die Ausgaben der BKW folgen folgendem Aufbau: Zu Beginn werden Originalartikel zu verschiedenen übergeordneten Themen abgedruckt. Diese Themenbereiche können zum Beispiel Sammelreferate und Bücherbesprechungen sowie konkrete Literaturauszüge sein. Danach folgen Berichte unterschiedlicher Gesellschaften und Kongresse. Der letzte Teil enthält tagesgeschichtliche Notizen, amtliche Mitteilungen, Geburts- und Sterbe-Listen von Berlin, den Krankenstand in den Berliner Hospitälern und Zivil- und Militär-Personalien. Schon hier wird deutlich, wie sehr die BKW mit dem Politikdiskurs ihrer Zeit verflochten ist.
Allgemein richtete sich die BKW an eine breite Ärzteschaft, besonders an diejenige, die nicht selbst in der Forschung tätig ist, wie zum Beispiel Land- und Hausärzte. Daher lässt sich die Zeitschrift als Kommunikationsmedium und Bindeglied zwischen Forschung und Praxis betrachten. Dabei sollte die BKWdie Reichweite für aktuelle medizinische Forschungsdiskurse erhöhen und zugleich Einfluss auf das praktische Handeln nehmen.
Das Corpus umfasst insgesamt 73.201 Seiten bzw. 81 Dateien, die uns sowohl als PDF- als auch als TXT- Datei vorliegen und über die Online Archive der Bayrischen Staatsbibliothek und das Internet Archive als Retrodigitalisate verfügbar sind.
Die BKW kann als Quellengrundlage für Arbeiten zur Geschichte der Medizin-, Körper- und Geschlechtergeschichte, der Psychologie, Wissens- und Technikgeschichte dienen.

Die Methode
Doing History mit Worthäufigkeiten
Die Digital History bearbeitet geschichtswissenschaftliche Fragestellungen mit verschiedenen digitalen Methoden. Im Umgang mit Textquellen gehört dazu u.a. die Arbeit mit Worthäufigkeitszählungen und Visualisierungen. Vor der Anwendung dieser quantitativen Analysemethode bedarf es einiger grundsätzlicher Überlegungen, die wir hier exemplarisch wiedergeben wollen.
Outputs der Gruppenarbeit
Der Diskurs um Menstruation in der Berliner Klinischen Wochenschrift
Genderspezifische Werbeanzeigen in der Berliner Klinischen Wochenschrift
Toolkritik
Ausgehend von dem Textcorpus der Berliner Klinischen Wochenschrift beschäftigten wir uns im Seminar in Projektgruppen explorativ mit verschiedenen selbstgewählten Fragestellungen zum Thema Geschlecht und Medizin. In fünf Gruppen haben wir folgende Schwerpunkte verfolgt:
- Geschlecht(skategorien) im medizinischen Diskurs der BKW
- Geschlechterspezifische Werbeanzeigen in der BKW
- Verwendungskontexte von Kokain während des Ersten Weltkriegs
- Der Körper als Maschine – Wie Ärzte in der BKW über Menstruation schreiben
- Männliche Hysterie am Beispiel der Kriegszitterer im Ersten Weltkrieg.
Die einzelnen Projektgruppen haben sich weitestgehend mit dem Tool Voyant vertraut gemacht und versucht, über Visualisierungen, die auf Worthäufigkeitsmessungen basieren, im Sinne eines distant reading einen neuen quantitativen Zugang zu den gewählten Diskurssträngen herzustellen. Die Projektgruppe, die sich mit Werbeanzeigen beschäftigte, musste einen anderen Zugang zu dem Corpus wählen, da Voyant als textbasiertes Tool die benötigten Bilddateien nicht verarbeiten konnte. Weil es kein spezielles Programm gab, das diese Arbeit algorithmisch verarbeiten konnte, war die Gruppe lange Zeit damit beschäftigt, die Ausgaben manuell zu sichten. Letztendlich konnten jedoch durch händisches Auszählen auch hier übersichtliche Diagramme erstellt werden, die aufzeigen, welche Art von Werbeanzeigen es gab und wie viele von denen tatsächlich genderspezifisch waren.
Während des Arbeitsprozesses gab es in nahezu allen Projektgruppen Komplikationen, welche auf das Tool Voyant zurückzuführen waren. Zu den Problemen zählten unter anderem:
- Absturz der Voyant-Serverversion bei mehreren Zugriffen.
- Zu lange Dokumentnamen, die bedingten, dass sie in den Visualisierungen nicht korrekt angezeigt werden konnten.
- Eine fehlende Funktionalität der Stop- und White-Word-Lists.
- Fehlende manuelle Zuweisung von Darstellungsfarben, welche die Vergleichbarkeit der Visualisierungen erschwerten.
- Die fehlerhafte Verknüpfung von interaktiven Visualisierungen mit dem hinterlegten Corpus erschwerte die qualitative Analyse. Dies erschwert eine Interpretation und weiterführende Analyse der Fundstelle. Die passenden Textpassagen mussten durch Schätzen und mit viel Suchen manuell gefunden werden, hier nutzen die Gruppen als Ergänzung zu den bisherigen Arbeitstechniken vor allem die Suchfunktion eines PDF-Readers.
Durch die fehlende Funktionalität der Serverversion von Voyant waren die Gruppen angehalten, das Corpus zu segmentieren und jedes Segment einzeln zu analysieren. Auch im Hinblick auf die oben genannten Schwierigkeiten bewerten wir die Analyse eines so großen Corpus mit Voyant als ambivalent. Dennoch war es mit Hilfe des Tools möglich, die großen Textmengen im Hinblick auf spezifische Fragestellungen hin zu analysieren und nicht nur relevante Passagen, sondern auch Zäsuren zu finden, die unsere bisherigen Annahmen irritiert haben.
Der Arbeitsprozess war insgesamt sehr dynamisch. Durch das wechselseitige Verhältnis von distant und close reading mussten Thema und Fragestellung mehrmals spezifiziert werden, was die begleitende Suche nach geeigneter Lektüre komplizierter machte. Mit den Visualisierungen muss durchaus kritisch umgegangen werden, da sonst sehr schnell ein falscher Eindruck über das Corpus entsteht. Sie müssen als eigene Quellen verstanden und interpretiert werden. Dies erfordert einerseits spezifische Kompetenzen, da die quantitativen Ergebnisse der Visualisierungen immer durch qualitatives Interpretieren von Fundstellen ergänzt werden müssen. Die Visualisierungen sprechen also nicht für sich.
Grundsätzlich bewerten wir Voyant durchaus als ein Tool, mit dem interessante Ergebnisse sichtbar werden, die man mit rein qualitativen Untersuchungen bei einem so großem Corpus wie der Berliner Klinischen Wochenschrift nicht so schnell finden würde. Dass der Computer semantisch blind ist, wird hier klar zum Vorteil. Trotz dessen erfüllt das quantitative Arbeiten keinen Selbstzweck für das Argumentieren in der Geschichtswissenschaft und muss durch qualitative hermeneutische Verfahren ergänzt werden. Inwiefern diese epistemologische Doppelbelastung[1] im Vergleich zum Nutzen gerechtfertigt ist, muss jedoch für jedes Forschungsvorhaben individuell reflektiert werden.
Referenzen
↑1 | Eugen Ruge, Gendergerechte Sprache. Eine Frage der Endung, in: Die Zeit, 24.01.2021, <https://www.zeit.de/2021/04/gendergerechte-sprache-veraenderung-geschlechtergerechtigkeit-duden> [Stand 26.01.2021]. |
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↑2 | Deutscher Bundestag, Debatte über AfD-Forderung für ein Ende der Gender-Forschung, 16.12.2020, in: bundestag.de, <https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw51-de-gender-forschung-812898> [Stand 26.01.2021]. |
↑3 | Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (Band 1), Frankfurt am Main 1980, S. 19. |
↑4 | Noah Bubenhofer, Visual Linguistics. Plädoyer für ein neues Forschungsfeld, in: Noah Bubenhofer u. Marc Kupietz (Hrsg.), Visualisierung sprachlicher Daten. Heidelberg 2018, <DOI: https://doi.org/10.17885/heiup.345.474>, S. 29. |
↑5 | Vgl. ebd., S. 44. |
↑6 | Vgl. ebd., S. 34f. |